Das verschwundene Huhn
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Es war ein ganz gewöhnlicher Morgen in meinem kleinen Rollenspielshop – na ja, so gewöhnlich, wie es bei einem grummeligen Goblin im Keller und einer stetigen Kundschaft voller exzentrischer Abenteurer sein kann. Ich war gerade dabei, die Regale mit neuen Regelwerken zu bestücken, als ich plötzlich ein lautes "Kikeriki!" hörte.
Verwirrt blickte ich zur Tür. Da stand es – ein Huhn. Aber nicht irgendein Huhn. Dieses Huhn trug eine kleine, viel zu schicke Halskrause und einen winzigen Zylinder auf dem Kopf. Es sah mich an, als wollte es mir die Leviten lesen.
„Seid ihr der Besitzer dieses Ladens?“ fragte das Huhn, und ich ließ fast das Buch in meiner Hand fallen. Es sprach. Ein sprechendes Huhn.
„Äh… ja? Kann ich helfen?“ stammelte ich, noch immer von der bizarren Situation überrumpelt.
Das Huhn – es stellte sich als Gertrud von Federnfels vor – stiefelte empört hinein und begann, sich umzusehen. „Ich suche meinen Entführer! Ein gewissenloser Goblin hat mich von meinem Posten als Hofmagierin gestohlen!“
„Einen Moment… Hofmagierin?“ Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte.
Gertrud schnaubte (sofern Hühner schnauben können). „Ich bin mehr als nur ein gewöhnliches Huhn. Ich bin die rechte Hand des Barons von Kieselklippe und wurde auf schändlichste Weise entführt!“ Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Und ich habe gehört, dass dieser Goblin in eurem Keller haust!“
Ich wusste sofort, dass sie von Krummfilz sprach. Seufzend machte ich mich auf den Weg nach unten, gefolgt von einer energisch gackernden Gertrud. Unten fand ich Krummfilz, der seelenruhig auf einem Hocker saß und genüsslich ein Sandwich verschlang.
„Krummfilz“, begann ich, „hast du irgendetwas mit einem sprechenden Huhn zu tun?“
Krummfilz blickte auf, ein wenig Ketchup im Mundwinkel. Sein Gesichtsausdruck war ein seltsames Gemisch aus Schuld und Unschuld. „Huhn? Welches Huhn?“
„Das Huhn, das hinter mir steht und dich anstarrt, als würde es gleich Feuerbälle auf dich werfen“, sagte ich trocken.
Gertrud trat vor und richtete ihre scharfen Augen auf Krummfilz. „Du! Goblin! Du hast mich in einer Nebelgrotte mit Maiskörnern gelockt und dann in diesem schäbigen Keller eingesperrt!“
Krummfilz zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, du wärst einfach nur ein kluges Huhn, das gute Geschichten erzählen kann. Du weißt schon… für den Laden. Die Kunden mögen sowas.“
„Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe!“ schnappte Gertrud und plusterte sich auf. „Ich bin eine hochqualifizierte Magierin, kein Unterhaltungsprogramm!“
Ich seufzte und rieb mir die Schläfen. „Krummfilz, hast du sie wirklich entführt?“
Der Goblin zuckte noch einmal die Schultern. „Naja, entführt ist ein starkes Wort. Ich dachte, wir könnten zusammenarbeiten. Sie war in der Grotte und wirkte gelangweilt.“
Gertrud war nicht beeindruckt. „Ich war nicht gelangweilt! Ich habe meditiert, du Grünschnabel!“
Nach einer langen Diskussion und einer Entschuldigung von Krummfilz einigten wir uns darauf, Gertrud sicher zurück nach Kieselklippe zu bringen. Doch bevor sie ging, kaufte sie ein Exemplar von „Zaubern für Anfänger“, mit dem sie angeblich ihrem Baron ein paar Tricks beibringen wollte.
„Vielleicht komme ich zurück“, sagte sie zum Abschied und setzte ihren kleinen Zylinder zurecht. „Dieser Laden hat immerhin Potenzial – wenn der Goblin weg ist.“
Mit einem letzten vorwurfsvollen Gackern verließ sie den Laden.
Und so ging ein weiterer ungewöhnlicher Tag in meinem Shop zu Ende. Krummfilz schwor, nie wieder sprechende Tiere mit Mais zu ködern – aber ich bin mir sicher, dass wir das letzte Mal von Gertrud noch nicht gehört haben.